Warum hat es mich getroffen? Zufall? Schicksaal? Ist es gut oder schlecht?
Mit diesen Fragen ist die Oberfläche dessen, was in den Köpfen von Menschen, die sich als nicht heterosexuell identifizieren, noch nicht einmal angekratzt.
Haben wir nicht alle schon mal in den Spiegel gesehen und uns mit Augen betrachtet, die nicht unsere Eigenen waren? Mit den Augen eines kritischen „Ichs“? Haben wir uns nicht alle schon mal angesehen und kritisiert, weil wir mit unserer Haut, unserem Körpergewicht oder unserem Haar – oder mit irgendetwas anderem unzufrieden waren? Du selbst bist immer dein größter Kritiker.
Und trotzdem gucken wir uns nicht immer noch, regelmäßig oder ab und zu, gezwungener Maßen oder freiwillig Bilder von „idealen“ Menschen an? Du kannst nicht leugnen, dass all das nichts mit uns macht. Vielleicht tut es das nicht, wenn man nach all der Zeit schon zu betäubt ist, um weiteren Schmerz oder Unsicherheit zu fühlen, oder grundsätzlich eine belastungsfähige Psyche besitzt. Aber in den meisten Fällen integrieren wir Idealvorstellungen von Haut und Haar, von Körper und Kleidungsstil in unser Leben. Natürlich auch von weitaus mehr als den genannten Beispielen. Allerdings würde es zu viel Zeit rauben alle Beispiele aufzuzählen und es ist auch immer eine subjektive Entscheidung, was wir in unser Leben integrieren und was nicht und kann damit nicht als eine bestimmte Regel definiert werden. Oftmals integrieren wir Idealvorstellungen sogar unterbewusst. Das muss nichts Schlimmes sein, aber es kann einen Menschen kaputt machen.
Die künstlich konstruierten Idealvorstellungen unserer Gesellschaft bestimmen auf eine gewisse Weise was „normal“ oder was „im Trend“ ist. Unsere Gesellschaft ist nicht nur leistungsorientiert, sie ist auch schönheitsorientiert. Eine Sache, die sich schon seit langem als „normal“ etabliert hat, ist die Heterosexualität. Das liegt vermutlich primär daran, dass es viel mehr Menschen gibt, die sich als heterosexuell ansehen, als solche, die das nicht tun. Anders gesagt, alles andere hat sich als „nicht normal“ etabliert. Viele Randgruppen, oder allgemein Menschen, die nicht den Idealvorstellungen entsprachen, wurden im zweiten Weltkrieg bekämpft. Vor allem Juden, aber unter anderem auch Homosexuelle oder körperlich oder geistig eingeschränkte Menschen.
Meine Überlegungen bringen mich zu folgender Schlussfolgerung: Ich möchte nicht mehr schwul sein. Oder bisexuell. Oder was auch immer ich bin. Vielleicht gibt es auch keinen Namen dafür und für mich braucht meine Sexualität auch keinen Namen. Menschen, denen ich das gesagt habe, haben mich oft nicht verstanden und dachten vielleicht sogar ich wäre homophob oder depressiv oder hätte ein sehr zertretenes Selbstbewusstsein. Aber das ist nicht gänzlich so. Ich habe ein zertretenes Selbstbewusstsein. Aber das ist okay. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: „Wenn du mit der Schwäche geboren wurdest zu fallen, dann wurdest du auch mit der Stärke geboren aufzustehen“. Mein Selbstbewusstsein ist kein Problem. Es stimmt aber nicht, dass dieser Wunsch homophob gemeint ist. Ich schreibe das hier, weil mich interessiert, was andere dazu denken.
Angefangen damit dass Hetero die Normalität ist. Wer den Film „Love Simon“ gesehen hat, der kann sich vielleicht sehr bildlich vorstellen, was ich jetzt beschreibe:
Warum müssen sich nur Menschen outen, die nicht Heterosexuell sind? Warum müssen sich Heteros nicht outen?
Weil unsere Gesellschaft ganz einfach schon immer von Vorurteilen geprägt war? Weil die nachkommenden Generationen noch weniger Verständnis für Menschen haben, die „anders“ sind?
Das lässt mich dastehen wie ein Pessimist, aber ich habe das Gefühl, Homosexuell zu sein hat vor allem drei Nachteile:
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Du wirst niemals „normal“ (entsprechend der gesellschaftlichen Definition) sein, weil es immer Menschen geben wird, die dich angucken als wärst du eines der Tiere im Zoo, wenn du mit einem gleichgeschlechtlichen Partner in der Stadt unterwegs bist. Jemand der, wie diese Tiere, an einem Ort ist, an den er nicht gehört. Überall auf der Welt gibt es Ausschreitungen gegen Menschen aufgrund von beispielsweise ihrer Religion, Hautfarbe oder Sexualität. Solche werden dann zu Sündenböcken, wie z.B. die Menschen jüdischen Glaubens im Nationalsozialismus. Erst kürzlich wurde Corona als Strafe Gottes wegen Homosexueller Menschen proklamiert.
„Du bist immer noch Du“, heißt es so schön. Aber das stimmt nicht. Du warst nie du. Der Typ, der vermeidlich hetero ist – das bist nicht du. Du bist der, der anderen was vorgemacht hat, um sich nicht outen zu müssen. Wenn Du dich outest, dann bist Du wirklich „Du“ oder? Ich schätze schon. Aber einfacher wird es deswegen noch lange nicht. Es scheint mir, dass sobald ein Heterosexueller Mann einem anderen Heterosexuellen Mann ein Kompliment macht, ein „No homo“ folgen muss. Warum? Weil diese Männer weniger Hirn haben als eine Fliege und Angst haben man würde sie direkt für Schwul halten? Richtig. In sicherlich nicht wenigen Fällen würden sich die ersten Kommentare unter einem solchen Kompliment damit befassen, ob der Typ auf Jungs stehe, wenn er kein „No Homo“ dazu schriebt oder allgemein als heterosexuell bekannt ist. Das soll keine Kritik daran sein, dass sich Menschen dafür interessieren. Aber ich habe mehr und mehr das Gefühl, schwul zu sein sei ein Statussymbol. Ein negativ belastetes. -
Ein weiteres Problem ist das Kennenlernen anderer Homosexueller. Als heterosexuelles Mitglied der Gesellschaft kannst Du vergleichsweise einfach durch die Welt gehen, andere heterosexuelle kennen lernen und sicher sein, dass sie ebenfalls heterosexuell sind, da das meistens der Fall ist. Du musst nicht erst fragen, ob jemand auch wirklich hetero ist. Wenn Du als Mann auf einen Mann zugehst, den Du gutaussehend findest, wirst Du unter gewissen Umständen beleidigt und abgewiesen. Du kannst als homosexueller nicht einfach rumlaufen und andere homosexuelle kennenlernen. Bleiben nur noch Internetseiten, auf denen Dir ab und zu sehr zwielichtige Menschen begegnen, die Dinge von Dir wollen, wie das Du ihnen für Geld ins Gesicht spuckst oder Apps wie Tinder, auf denen viele einfach nur auf „Fun“ aus sind. Kann ja cool sein, aber hilfreich zum gescheiten Kennenlernen anderer homosexueller ist es nicht unbedingt. Dann gibt es noch offizielle Partys und Bars in denen man andere Männer kennen lernen kann, aber die sind in der Regel ab 18 und bis dahin hat man unter Umständen seine ganze Jugend mit falschen Geschichten und einsamen Nächten verbracht. Anders gesagt: Jemanden kennen zu lernen ist nicht leicht. Und wer aus Deinem nahen Umfeld homosexuell ist, kannst Du nicht wissen, außer die Person ist geoutet, denn immerhin trägt ja niemand ein Schild auf der Stirn, auf dem die Sexualität der Person steht, wenn diese sich den überhaupt in eine der gängigen Kategorien einordnen lässt.
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Der, meines Erachtens nach größte Nachteil ist, dass Du niemals Kinder von ausschließlich Deiner Partnerin beziehungsweise Deinem Partner und Dir großziehen kannst. Du wirst niemals ohne weiteres Deine eigene Familie gründen können. Niemals wirst Du ein Kind im Arm halten können und wissen, dass es das ausschließliche Produkt eurer Liebe ist. Denn es braucht nun mal einen Mann und eine Frau um ein Kind zu zeugen. Und selbst wenn es möglich wäre (ohne in die Genetik eines Menschen eingreifen zu müssen), müsstest Du Deinem Kind eines Tages erklären, warum ihre oder seine Eltern nicht mit euch leben. In manchen Ländern ist es für homosexuelle noch heute verboten eine Ehe einzugehen, geschweige denn ein Kind zu adoptieren. Die Botschaft ist eindeutig.
Sobald Dir bewusst ist, dass du homosexuell bist, oder zumindest nicht heterosexuell bist, behütest du ein Geheimnis, welches du so einfach nicht unbedingt teilen kannst oder willst. Wenn doch – dann bist du mutig. Das ist gut und ich wünschte mehr Menschen hätten diesen Mut, aber manchmal ist es besser so etwas zu verschweigen. Meistens bist Du mehr oder weniger gezwungen anderen etwas vorzumachen und Dir dann eines Tages anzuhören, warum Du es nie früher erzählt hast. In meinem Fall, weil ich viele Nächte meine eigene Existenz verachtet habe. All die Lügen, die Du auftischen musst, um Dich nicht früher outen zu müssen als Du willst – wenn überhaupt. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte es nie getan. Die größte Lüge von allen: Du selbst. Denn Du bist nicht Du, wenn Du anderen weismachst, Du wärst heterosexuell, obwohl Du es nicht bist. Wenn Du mit andern über Frauen oder Männer redest, als würdest Du sie lieben können, so wie andere Männer oder Frauen. Wenn Du mit anderen über die schönsten Mädchen oder Jungen in eurem Kurs oder auf eurer Arbeit oder sonst wo redest, dann bist Du nicht Du. Dann bist du nur eine Maske, die Du aufsetzt, weil Du Angst vor Ausgrenzung oder den Reaktionen anderer auf deine Sexualität hast. Vielleicht zurecht. Der Vergleich mit der Maske wird oft benutzt, beschreibt es aber auch ganz gut.
Ich habe die Maske abgesetzt. Für die meisten Menschen. Und ehrlich gesagt, oft bereue ich es. Ich will einfach nur „normal“ sein. In einer Gesellschaft, in der deine Sexualität über deine soziale Integration und gegebenenfalls deine Zukunft entscheidet, ist normal zu sein ein Privileg. So wie jeder andere. Ich will ein normales Leben führen, meinetwegen sogar ein Leben in Armut, denn man lernt das geringste sehr viel mehr zu schätzen, wenn man nichts hat. Ich will mit Frauen ausgehen wie jeder andere und sie lieben so sehr ich kann. Ich will eine eigene Familie gründen mit Kindern, die nur ihre und meine sind. Es gibt so viele tolle Frauen um mich herum. Besondere Frauen. Ich mag besonders. Klar „normal“ sein ist auf eine gewisse Weise langweilig – jeder sollte so sein, wie er will. Wenn Deine Art Dich für andere „normal“ macht dann ist dem so. Ist ja kein Problem, solang man glücklich ist. Aber es gibt eine Frau, die so besonders ist, dass ich sie auf eine gewisse Weise liebe. Sie teilt die gleichen, sehr seltenen Interessen, sie ist auf die gleiche Weise verrückt, wie ich und sie denkt oft genauso wie ich. Und dennoch weiß ich, dass ich sie niemals so lieben kann, wie ich Männer geliebt habe. Ich kann keine Familie mit ihr gründen, auch wenn ich mich so sehnlich nach einem solchen Leben sehne. Ich kann ihr niemals die Liebe geben, die sie verdient. Und das bricht mir das Herz und entflammt sogleich eine Ablehnung und nicht selten sogar einen Hass darauf, dass ich so bin, wie ich bin.
Warum hat die Natur es nicht ermöglicht, dass zwei Männer oder zwei Frauen ein Kind zeugen können? Vermutlich weil es nicht gewollt ist. Also sind wir nicht gewollt? Sind wir falsch? Sind wir krank? Wenn es einen Gott gibt, warum gestattet er diese Liebe dann nicht, indem er es zwei gleichgeschlechtlichen Körpern erlaubt Kinder zu zeugen? Warum dürfen gleichgeschlechtliche Paare erst seit kurzem und noch lange nicht überall heiraten und warum gibt es so viele christliche Gemeinden, die eine solche Hochzeit nicht durchführen? Niemals können wir durch eine Gesellschaft gehen und stolz sein darauf, wie wir sind. Klar gibt es den Christopher Street Day. Aber warum feiern wir unsere Liebe? Immerhin gibt es ja auch keine Feiern für die heterosexuelle Liebe. Ungeachtet aller Feiern und sonstigen Bemühungen, es gibt ihn weiterhin, den Hass und die Ablehnung. Seit langer, langer Zeit gibt es ihn.
Gleichzeitig scheinen die stereotypischen heterosexuellen Männer unserer Gesellschaft einerseits ein völlig falsches Bild von homosexuellen zu haben und sich andererseits auch nicht dafür zu interessieren, dieses zu berichtigen. Wie oft hat man es sich schon anhören müssen: „Du bist schwul? Ich kenne da jemanden, der auch schwul ist. Wir sollten euch beide verkuppeln“. Die allgemeine heterosexuelle Gesellschaft scheint zu denken, die homosexuellen-community sei eine einzige Inzest-Familie in der jeder jeden kennt und jeder schon mit jedem geschlafen hat. Unfassbarer Bullshit einerseits – traurige Wahrheit andererseits. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung, wenn man fast ausschließlich Apps oder Internetplattformen verwendet, um jemanden kennenzulernen, kennt man sehr schnell sehr viele Menschen der gleichen Randgruppe. Und tatsächlich scheinen viele heutzutage nur noch nach sexueller Befriedigung zu suchen. „Fun“ nennen sie es. „Was suchst du?“, wird man nicht zu selten gefragt. Ja – was suche ich? Vielleicht eine Gesellschaft, in der es kein „normal“ gibt oder eine Gemeinschaft, in der nicht jeder zu einer Wichsvorlage wird. Oder vielleicht einfach nach dieser einen – ganz großen Liebe? Aber wie soll man die finden in einer Gemeinschaft, die auf sexuellen Spaß und unpersönliche Dating-Apps ausgelegt ist? „Wir haben uns über eine App kennen gelernt“ ist nicht, was ich eines Tages erzählen will, wenn es darum geht, wie ich die Liebe meines Lebens gefunden habe. Ich will eine analoge Liebesgeschichte.
Frage: Wenn Du jetzt die Möglichkeit hättest, deine Sexualität zu von homosexuell oder bisexuell zu heterosexuell zu ändern, würdest du es tun? Ich – würde es tun.
Nun eine Variation dieser Frage: Wenn du durch diese Entscheidung all deine Erfahrungen, Handlungen und Freunde oder Bekannte, die mit deiner „alten Sexualität“ in Zusammenhang stehen, verlieren würdest, würdest du dich dann genauso entscheiden? Ich bin durch zu viel gegangen, um diese Frage zu verneinen.
Seit ich sicher weiß, dass ich mich primär in Männer verliebe, ist es ausschließlich eine Belastung gewesen. Ich weiß, ich kann nichts daran ändern. Ich kann nur damit leben, versuchen so glücklich wie möglich zu werden und ein erfülltes Leben zu haben. Das wäre aber auch um einiges einfacher, wenn es Männer, die meinem Typ entsprechen in der Nähe geben würde. Leider verliebe ich mich immer wieder in Männer auf der anderen Seite der Welt, die „scheinbar perfekt“ sind. Doch am Ende ist es nur deprimierend, da es nie etwas wird.
In zu vielen Nächten habe ich mir gewünscht einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen als dass ich es weiter ertragen könnte. Ich will weinen. Ich will Fluten weinen, aber ich kann nicht… ich schaffe es einfach nicht. Ich will meine gesamte Lebensenergie in Tränen vergießen doch mein Körper lässt mich nicht. Ich fühle mich schwach doch mein Körper entscheidet nicht gebrochen genug zu sein, um zu weinen und ich hasse ihn dafür. Es fühlt sich an als wäre ich in einem Raum eingesperrt, der sich mit Wasser füllt. Die Fluten drücken mich an die Wand und ich kann nur schwer atmen. Es fühlt sich an als würde ich jeden Moment ertrinken. Und es tut weh, dass es mich vielleicht nicht einmal stören würde. Ich stelle mir meine Mutter vor, wie sie in mein Zimmer kommt und vor meinem Bett kniet. Weinend. Gelähmt. Und in der Hoffnung, dass ich wieder komme. Die Vorstellung tut so sehr weh, dass sie alles andere verdrängt. Aber ich kann nicht darüber sprechen. Wie willst du jemandem erklären, dass du einen grundlegenden Bestandteil deiner Perönlichkeit verachtest?
Ich will doch einfach nur eine Frau lieben. Ich würde alles wirklich alles tun, um eine Frau so zu lieben wie einen Mann. Es macht mich kaputt. Auf eine Weise, die ich nicht aufhalten kann. Keine Worte der Welt können mich davon befreien. Es ist zu tief verwachsen mit meinem Bewusstsein. Warum schreibe ich das hier dann? Hoffe ich einen Wunderheiler zu finden der mich heterosexuell macht? Schön wär’s. Aber wenn auch nur annähernd die Möglichkeit besteht, dass es klappt, dann will ich es versuchen. Denn die Fluten ersticken mich. Ich muss etwas tun. Irgendwas. Das hier ist nichts weiter als ein verzweifelter Hilfeschrei aus den letzten Atemzügen. Vielleicht finde ich Hilfe. In jedem Fall danke, dass Du bis hierhin gelesen hast.